Von sich selbst und vom Anderen entfremdet - die Dissoziation

Die Dissoziation ist ein Überbegriff, der mehrere Phänomene beschreibt. Der vorliegende Artikel beschäftigt sich primär mit dem Phänomen der Depersonalisation und der Derealisation.

Abgrenzung zu anderen Phänomenen

In der Depersonalisationsstörung bleibt die Realitätsprüfung aufrecht. Sie tritt nicht in medikamenten- oder drogeninduzierten Zuständen auf, geht nicht mit einer schizophrenen Störung einher und wird auch nicht durch eine körperliche Erkrankung hervorgerufen.

Die Depersonalisation

Die Depersonalisation beschreibt den Zustand einer veränderten und distanzierten Selbstwahrnehmung. Die Person fühlt eine Distanz zu sich selbst.  So, als würde sie:
  • nicht ganz in ihrem Körper sein,
  • neben sich stehen oder
  • über sich schweben.

Die Person verliert ein Stück weit den Kontakt zu sich selbst. Sie empfindet eine
  • Distanz zum Körper. Der Körper wird als fremd, als nicht wirklich zugehörig oder als weit entfernt empfunden. Es gibt wenig Verbindung zum Körper. Oft verliert sich in diesem Zustand das Körperempfinden. Die Person fühlt sich fast körperlos. Da ist ein Körper, aber er scheint nicht viel mit einem zu tun zu haben. In diesem Zustand existiert nur noch eine sehr geringe Identifikation mit dem Körper.
  • Distanz zum eigenen Erleben, die mit einer emotionalen Distanz einhergeht. Der Betroffene fühlt kaum etwas, ist emotional flach und nicht wirklich involviert in das gegenwärtige Geschehen. Je stärker die Depersonalisation ausgeprägt ist, umso weniger Kontakt hat der Mensch zu sich selbst. In dieser Version wird die emotionale Distanz als durchaus angenehm empfunden. Je mehr Kontakt jemand noch zu sich hat, umso eher wird die emotionale Distanz, in der einem nichts mehr wirklich berühren kann, als unangenehmer und grauenhaften Zustand erfahren.
  • Distanz zu den Gedanken, diese wirken weit weg, verlangsamt und manchmal sogar fremd.

Die Distanz zu sich selbst hat Auswirkungen auf die Kommunikation. Es dauert, bis eine Frage die betroffene Person erreicht und diese antworten kann. Während der Depersonalisation ist die Kommunikation daher häufig verlangsamt.

Die Derealisation

Meist geht eine Depersonalisation mit einer Derealisation einher. Wenn eine Person weit von sich selbst entfernt ist, dann gibt es immer auch eine Distanz zum Anderen, sowie eine Distanz zur jeweiligen Situation und Realität.
Häufig fühlen sich die Betroffenen wie in Watte gepackt oder wie hinter einer nicht sichtbaren Wand. Manchmal fällt Betroffenen auf, dass sie keine Verbindung mehr zu anderen herstellen können.
Im dissoziierten Zustand, wie beispielsweise bei der Depersonalisation und Derealisation, reagiert die Person innerlich nicht oder kaum mehr auf ihre Umgebung. Situationen lösen wenig Resonanz und kaum Empfindungen aus. Emotional wird nicht mehr viel aktiviert. Die Person leidet nicht unter einer Situation, sie kann sich aber auch nicht sonderlich freuen oder für etwas begeistern. Das Leben verliert die emotionale Tönung, alles wird grau. Die Betroffenen verlieren den Kontakt zu sich, zu den anderen, zur Situation und zu ihrem Leben. Dadurch entsteht das Gefühl nicht mehr wirklich am Geschehen beteiligt zu sein, nicht am Leben teilzunehmen. So, als würde ein Tag nach dem anderen an einem vorüberziehen, während man selbst teilnahmslos ist. Das Leben geht weiter, aber irgendwie ohne einem, ohne innere Beteiligung. Man lebt nicht mehr, sondern überlebt irgendwie.

Eine erwünschte „positive Derealisation“

Menschen haben die Gabe, sich über Vorstellungen in andere Welten zu begeben, wo sie eine Art Traumwelt, eine schönere oder spannendere Welt aufbauen können. Dabei wird die innere Realität verändert, die Person erlebt jedoch keine Depersonalisation. Sie erfährt diese Welt mit all den dazugehörenden Gefühlen und Empfindungen.
Eine Person kann eine Derealisation durchaus für sich nutzen. Dies sind jene Personen, die sich in einem, für sie langweiligen oder unangenehmen Zustand, willentlich in eine „heile, bessere oder spannendere Welt“ fantasieren. Sie beamen sich sozusagen vom gegenwärtigen Geschehen fort, in eine Traumwelt, die sie nach ihren Wünschen gestalten können. Dies wird oft als angenehm empfunden, wodurch kein Bedürfnis besteht, aus der Fantasiewelt wieder in die reale Welt zurückzukehren.  Dadurch besteht die Gefahr, dass die Person sich nicht mehr ausreichend um ihr Leben und ihre Herausforderungen kümmert.

Die unerwünschte „negative Derealisation“ und Depersonalisation

Viele wollen nicht aus dem Leben aussteigen oder erleben in der Depersonalisation keine „heile Welt“, sondern eher eine „schreckliche Welt“. Diese Personen steuern die Dissoziation nicht willentlich, sie passiert ihnen einfach.
Häufig wird die Depersonalisation durch unangenehme emotionale Zustände ausgelöst. Diese müssen nicht unbedingt bedrohlich oder traumatisch sein. Zuweilen löst eine Langeweile, Nähe oder ein emotionales Bedrängnis die Dissoziation aus. Bei manchen bahnt sich eine Dissoziation schleichend an, bei vielen vollzieht sie sich jedoch schlagartig.

Die Fähigkeit zur distanzierten Selbstwahrnehmung

Die Fähigkeit zur distanzierten Selbstwahrnehmung ist ein eingebautes menschliches Reaktionsmuster. Bei vielen Menschen wird sie nur minimal oder nie ausgelöst.
Üblicherweise kommt es zu Erfahrungen von Depersonalisation, wenn das weitere Leben gefährdet ist. Dann trennt sich ein Teil des Bewusstseins vom Körper. Es ist ein Versuch, die bedrohliche Situation ohne größeren Schaden zu überleben. Bei bedrohlichen Unfällen zeigt sich die Bereitschaft zur Depersonalisation. In diesem Moment kann sich die Person selbst zuschauen. Sie kann beobachten, was passiert, ohne vollkommen in das Geschehen involviert zu sein. In diesem Zustand verändert sich das zeitliche Empfinden – alles erscheint langsamer, fast wie in Zeitlupe. Man selbst ist zwar irgendwie am Geschehen beteiligt, aber nicht wirklich emotional involviert. Es besteht ein emotionaler Abstand zum Geschehen. Fast so, als wäre man nur ein Beobachter dieser Situation. Dass einem diese Situation selbst betrifft, ist bewusst – die Realitätskontrolle ist vorhanden – doch der persönliche Bezug fehlt. Hat sich die bedrohliche Situation aufgelöst, verbindet sich der abgetrennte Teil des Bewußtseins wieder mit dem Körper und das Fühlen kehrt zurück. Nun wird gespürt, was vorher blockiert war.
Nicht immer geht eine Depersonalisation mit einer schrecklichen oder traumatischen Erfahrung einher. Es gibt auch spirituelle Techniken des Beobachtens, die eine gewisse Distanz zu den körperlichen Empfindungen, wie Emotionen und Gedanken absichtlich herbeiführen und schulen.

Die automatisierte Dissoziation

Hat ein Mensch gelernt, der Welt über eine Dissoziation zu entfliehen, wird diese Technik öfter angewandt. Nicht immer sind Menschen, die dissoziieren, schwer traumatisiert, aber Traumatisierte neigen in unangenehmen emotionalen Zuständen oft zur Depersonalisation. Traumatisierte Menschen haben meist gelernt, sich in schlimmen Erfahrungen von ihrem Erleben zu entkoppeln. Für sie war es meist die einzige Möglichkeit, dem grausamem Geschehen zumindest ein Stück weit innerlich zu entfliehen. Ist diese Strategie einmal erworben, kann die Depersonalisation sehr rasch abgerufen werden.
Vor allem bei traumatisierten Menschen kommt es später häufig zu einem Automatismus. Geraten sie in einen unangenehmen emotionalen Zustand, ziehen sie sich prophylaktisch zurück. Eine Schutzreaktion, die dazu dient, eine Distanz zur anderen Person oder zur Situation herzustellen, noch bevor etwas Schlimmes geschehen könnte. Der Nachteil dieser automatischen Reaktion besteht darin, dass nicht mehr überprüft wird, ob die aktuelle Situation tatsächlich bedrohlich ist und es einer Schutzreaktion bedarf oder nicht. Sie triften innerlich weg und es dauert, bis sie wieder zu sich zurückfinden. Im besten Fall löst sich die Depersonalisation nach kurzer Zeit wieder auf, manchmal kann sie aber auch länger anhalten.

In der Depersonalisation verliert sich die eigene Lebendigkeit

Der Betroffene erlebt eine Distanz zu sich wie zu seinem Leben. Die eigene Lebendigkeit geht verloren. Im Grunde erscheint das Leben in der Depersonalisation ein bisschen, als wäre man in einem Trancezustand. Irgendwie bekommt man noch etwas von der Außenwelt mit, aber alles erscheint weit entfernt und gedämpft und ohne persönlichen Bezug.
Im Depersonalisationszustand ist der Mensch nicht nur für andere nicht mehr erreichbar, er erreicht sich selbst ebenfalls nicht mehr. Der Bezug zu sich selbst sowie zum eigenen Leben geht verloren. Dadurch erscheint das eigene Leben unpersönlich und bedeutungslos. In diesem Zustand verliert der Mensch das Interesse an seinem Leben und strebt keine Veränderung des Zustandes an. Der Betroffene hat wenig Bereitschaft, etwas für sich zu tun oder zu investieren. Das jeweilige Geschehen wird ausgehalten und passiv hingenommen, aber nicht mehr aktiv gestaltet.
Dieses sich nicht mehr Spüren ist in einer gewissen Weise durchaus gewollt. Die Depersonalisation bietet eine Möglichkeit, emotionalen Missstimmungen oder einer unangenehmen Welt zu entfliehen, indem man diese Dinge einfach nicht mehr wahrnimmt und spürt.

Die Auswirkungen der Dissoziation auf die Beziehung

Der Kontakt geht verloren
Ein Mensch, der dissoziiert, verliert nicht nur den Kontakt zu sich selbst, sondern auch den Kontakt zum anderen, was gerade in nahen Beziehungen problematisch ist.
In der Dissoziation suchen viele nicht nach Kontakt. Sie neigen eher zu Rückzugsimpulsen, wollen von den anderen Menschen in Ruhe gelassen werden, sich um sich selbst kümmern oder über „ihre Welt“ – in der sie sich gerade befinden – nachdenken. Wenn dann jemand mit ihnen redet, zerrt das Gespräch an ihrer Aufmerksamkeit und zieht sie aus ihrer Welt, was als störend empfunden wird.

Es ist keine Begegnung mehr möglich
Die andere Person wird die Auswirkungen der Depersonalisation mitbekommen und spüren, dass sie den Betroffenen nicht mehr erreicht, dass sie keine Verbindung mehr zu diesem Menschen aufbauen kann. Es entsteht eine schlimme Beziehungssituation, vor allem für Kinder, die dann die Mutter oder den Vater nicht mehr erreichen, oder auch für Partner, die die dissoziierte Person emotional und auch häufig mental über Argumente nicht mehr erreichen. Für das Umfeld ist es oft nicht nachvollziehbar, was da vor sich geht. Die Depersonalisation vollzieht sich rasch und die Auslöser dafür sind nicht unbedingt erkennbar. Das Gegenüber spürt, dass der Betroffene innerlich nicht bei sich ist, auch nicht bei ihm, sondern weit weg ist, vor allem emotional.

Zwei Welten, die sich nicht begegnen
Wenn keine Begegnung mehr möglich ist, kann es zu Kommunikationsabbrüchen kommen.  Dann schweigen beide, ein Schweigen indem unklar ist, was gerade los ist. Kommt eine Kommunikation zustande, ist dieses geprägt durch „Vergegnungen“. Die dissoziierte Person befindet sich innerlich in einer „anderen Welt“ als das Gegenüber und bezieht sich somit auch auf eine andere Realität. Die beiden werden sich folglich nicht wirklich verstehen.
Oft fühlen sich Partner missverstanden, erleben, wie sie Vorwürfe bekommen, die sie nicht nachvollziehen können, Argumente, die wenig mit der gegenwärtigen Situation zu tun haben. Das Verhalten sowie die Kommunikation oder Argumentation der dissoziierten Person kann durchaus verwirrend, nicht nachvollziehbar und verstehbar sein. Vorwürfe der dissoziierten Person scheinen zeitweise nicht passend und an eine andere Person gerichtet zu sein.

Die emotionale Verbindung geht verloren
Der Partner kann keine emotionale Verbindung mehr zur dissoziierten Person aufbauen, er scheitert mit seinen Beziehungsversuchen. Den Anderen emotional nicht mehr zu erreichen ist kein gutes Gefühl, denn nun erlebt der Partner, wie er den anderen im wahrsten Sinne völlig „kalt“ lässt. Die dissoziierte Person verliert nicht nur den Bezug zu sich selbst, sondern auch zum Partner. Gefangen in seiner emotionalen Kälte scheint es dem Dissoziierten egal zu sein, dass sich der Partner gerade um ihn bemüht, oder leidet. Die dissoziierte Person begegnet sich selbst wie dem Anderen mit derselben inneren Gleichgültigkeit. Im Zustand der Depersonalisation fehlt jegliche emotionale Resonanz.
Die fehlende emotionale Resonanz ist auch für den Dissozierten schwierig. In dissoziativen Zuständen empfinden sie nichts mehr für den Partner. Zeitweise neigen Dissoziierte dann dazu, die Beziehung zu beenden, weil sie keine Gefühle mehr für den Partner haben. Wenn sie aber genauer hinsehen, existiert in diesem Zustand auch kein Gefühl mehr für andere nahestehende Menschen oder für sich selbst.

Der missglückte Versuch die Distanz zu durchbrechen
Gehäuft kommt es in solchen Kontakten zu einem aggressiven Verhalten des Partners. Der Partner möchte den dissoziierten Menschen noch irgendwie erreichen und versucht, beim Anderen eine emotionale Reaktion auszulösen. Für die Beziehung ist jede emotionale Reaktion besser als keine. Es ist also besser, eine negative Reaktion zu bekommen, als überhaupt keine Reaktion. Funktionieren die positiven Annäherungsversuche nicht, kommt es häufig zu verbalen Attacken und Vorwürfen. Der Partner versucht den anderen hinter seiner Mauer noch irgendwie zu erreichen, indem er beispielsweise verbal auf ihn einschlägt.
Wenn wir verstehen, dass die meisten Dissoziationen aus einer emotionalen Missempfindung hervorgehen, wird ein Angriff oder eine Attacke eine Dissoziation nicht auflösen, sondern diese eher verstärken.

Die Rückkehr zu sich selbst und zur jeweiligen Realität

Die körperliche Verbindung wiederfinden
Schlussendlich geht es bei der Depersonalisation immer darum, dass der Mensch den Bezug zu seinem Körper und zu seinen Empfindungen verliert. Der Körper ist da, das Erleben wäre da, aber es gibt keine Verbindung dazu. So, als würden wir ein Handy besitzen, aber keine Verbindung aufbauen können, weil das Netz außer Betrieb ist. So ähnlich ergeht es den Menschen in der Depersonalisation.
In der Depersonalisation erleben viele den Impuls allein zu sein und sich von den anderen und der Situation zurückzuziehen. Dieser Impuls verstärkt allerdings die bereits vorhandene Distanz.
Die Depersonalisation kann aufgelöst werden, wenn die Person wieder ins Spüren kommt. Üblicherweise ist es einfacher in das körperliche als in das emotionale Spüren zu kommen. Daher ist alles, was den Menschen wieder in den Körper und in das körperliche Spüren zurückholt, hilfreich. Man kann sich beispielsweise kaltes Wasser ins Gesicht spritzen oder über die Arme laufen lassen, oder die Kälte eines Eiswürfels nützen, um sich körperlich wieder zu spüren. Auch frische Luft, kalte Getränke, den eigenen Körper berühren, reiben, abklopfen oder bewegen nützen.
Hilfreich sind auch Berührungen von anderen Personen und Gespräche mit Anderen. Leider sind das genau jene Bereiche, die der Depersonalisierte eher meidet.
Wenn eine Person bereits eine automatisierte Depersonalisation erlernt hat, dauert das Umlernen. Der Weg in die Depersonalisation ist leicht, der Weg zurück beschwerlich. Es braucht Übung, um immer wieder in das körperliche Spüren zu kommen. Doch es ist ein lohnender Weg. Denn je besser jemand eine körperliche Verbindung aufbauen kann, umso schneller entkommt er der Depersonalisation.

Die Verbindung zur gegenwärtigen Realität herstellen
Beim Weg aus der Derealisation geht es primär darum, sich wieder in der gegenwärtigen Realität zu verankern. Hinzuschauen, auf „das, was jetzt ist“ und nicht auf „das, was in den Vorstellungen gerade passiert“.


Ich habe jetzt den Blog Erkenntnisse von der Couch eröffnet. Dort finden Sie weitere interessante Beiträge, wie beispielsweise Vorsicht: Burnoutgefahr! oder die Beitragsserie "Wenn Liebe weh tut". Hier geht es zum ersten Teil dieser Serie: Wenn Liebe weh tut - Bedrohliche Nähe.

©  Mag. Brigitte Fuchs