Frühe Erfahrungen formen unsere Annahmen von der Welt
Unsere frühen Erfahrungen prägen uns (siehe Artikel "
Prägende Erfahrungen"). Aus unseren Erfahrungen entwickeln wir Annahmen darüber, wie die Welt, wir selbst, oder die anderen sind. Diese inneren Annahmen werden automatisch aufgebaut und sind uns häufig nicht bewusst. Haben wir einmal solche Annahmen aufgebaut, erwarten wir, dass die Welt, die anderen, wir selbst, so sind und so bleiben, wie wir es kennen gelernt haben.
„Alte“ Verknüpfungen
Anhand unserer Erfahrungen werden Verknüpfungen im Gehirn aufgebaut. Am Anfang gleicht das Gehirn einer leeren Landkarte. Unsere Erfahrungen formen die innere Landkarte und schaffen Verbindungen. Je häufiger sich eine Erfahrung wiederholt, umso tiefer prägt sie sich ein. Einige Beispiele für Verbindungen, die wir aufgrund unserer Erfahrungen schaffen:
- Wir erleben, wie die Eltern beständig da sind und sich um uns kümmern. Die Eltern vermitteln uns ein Gefühl von Sicherheit, Stabilität und Geborgenheit. Wir fühlen uns sicher.
- Wir erleben wie der Vater immer wieder stolz auf uns ist, wenn wir Leistung erbringen. Daraus lernen wir: Wollen wir beachtet werden, müssen wir etwas leisten.
- Ist die Mutter mit negativen Emotionen überfordert, kann sie uns auch nicht helfen, mit diesen Gefühlen zurecht zu kommen. Wir bleiben alleine und bauen eine Verbindung von negativen Gefühlen mit Alleinsein, Rückzug und Isolation auf.
- Sind unsere Eltern überlastet und haben sie keine Zeit für unsere Bedürfnisse, lernen wir: Wir dürfen die Eltern nicht belasten, weder mit unserer Anwesenheit, noch mit unseren Problemen, Bedürfnissen oder Gefühlen. Wir sind dann brav, wenn wir unauffällig sind.
Unsere Erfahrungen führen dazu, dass wir Themen miteinander verbinden, die nicht zwangsläufig zusammengehören. Gemäß unserer Erfahrung sind sie miteinander verbunden. Diese Verknüpfungen werden nicht hinterfragt und so wiederholen wir die alten Erfahrungen.
Warum wiederholen sich unsere Erfahrungen?
- Häufig wiederholen sich unsere Erfahrungen erst aufgrund unseres Verhaltens. Wir erwarten eine „bestimmte“ Erfahrung und verhalten uns dementsprechend. Gehen wir beispielsweise davon aus, dass der Partner uns sowieso nicht zuhört oder hilft, dann erzählen wir ihm nicht was uns beschäftigt, was wir brauchen. Damit hat der Partner wenig Chance, uns oder unser Bedürfnis wahrzunehmen. Die Wahrscheinlichkeit, dass wir dann etwas bekommen, ist äußerst gering. Was uns wiederum in der Ansicht bestärkt, dass wir sowieso nichts vom Partner erwarten können.
- Wiederholungen können auch in unserer Wahl begründet sein. Die Anziehung zu gewissen Menschen, Situationen, Berufen gründet oftmals in unserer Vergangenheit. Vertraute Konstellationen ziehen uns an, egal ob sie angenehm oder förderlich für uns sind oder nicht. So suchen wir uns gerne einen Partner oder Chef mit dem wir unsere kindlichen Beziehungserfahrungen wiederholen. Wo wir wieder die „Helferin“, der „Versorger“, die „Böse“, der „Verlassende“, eine Belastung, usw. sind.
- Erfahrungen, die nicht zu unseren Annahmen passen, werden ausgeblendet oder verzerrt wahrgenommen. Es fällt uns schwer, Erfahrungen zu machen, die nicht zu unseren Erwartungen passen. Haben wir Probleme mit unserer Mutter, so sehen wir mit der Zeit nur noch die problematische Beziehung. Zeiten, in denen der Kontakt mit der Mutter möglicherweise gut funktioniert, fallen uns nicht auf. Gerne verändern wir unsere Erfahrungen auch um und heben das Vertraute, in diesem Fall das Negative, hervor. „Sie war sicher nur nett, weil sie etwas will.“ Der Schwerpunkt unserer Wahrnehmung liegt auf der Verstärkung der vertrauten Muster.
- Andere stecken ebenfalls in der Wiederholungsschleife fest. Nicht nur wir, auch andere wiederholen ihre Muster. Dadurch erleben wir, dass Eltern, Geschwister, Partner oder Lehrer ähnlich oder gleich reagieren. Wir reagieren immer gleich, wenn wir unsere Muster wiederholen.
Die Verallgemeinerung
Wir erleben immer wieder dieselben Erfahrungen, womit unsere frühen Erfahrungen in die Gegenwart gelangen. Unsere psychische Struktur verhärtet und verstärkt sich zunehmend. Statt uns weiterzuentwickeln, verallgemeinern wir unsere Annahmen. In der Verallgemeinerung gehen wir nicht mehr nur davon aus, dass die Mutter, der Vater, die Lehrerin so war, sondern dass alle so sind.
Wir gehen also dann davon aus, dass:
- immer einer für uns da ist, wenn wir jemanden brauchen.
- wir Erfolg haben und etwas tun müssen, um anderen zu gefallen oder uns selbst zu genügen.
- keiner für uns da ist, wenn es uns schlecht geht. Dass es niemanden interessiert, wie es uns geht, oder es uns gar nicht schlecht gehen darf.
- wir in Beziehungen nichts fordern dürfen und andere nicht mit unseren Gefühlen oder Problemen belasten dürfen.
Bei guten Erfahrungen stört uns die Wiederholung nicht. Erfahrung, bei denen wir beispielsweise erleben, wie sich finanzielle Probleme auflösen, wie wir berufliche Angebote oder Beziehungsanfragen bekommen oder wie sich immer wieder günstige Ereignisse aufbauen.
Nicht alle Wiederholungen sind jedoch angenehm für uns. Gerade in jenen Bereichen, in denen wir uns von einer Erfahrung lösen wollen, erleben wir, wie schwierig das ist. Irgendwie scheint sich die „alte“ Erfahrung immerfort in unser Leben einzuschleichen.
Die Wiederholungstendenz
Die Verknüpfungen, die wir in der Vergangenheit aufgebaut haben, führen uns in eine Wiederholungsschleife.
- Haben wir beispielsweise gelernt, dass Nähe Angst auslöst, bauen wir eine Verknüpfung von Nähe und Angst auf. Entsteht später Nähe, wird im selben Moment auch Angst aktiviert. Wir reagieren auf die alte Angst und flüchten aus der Nähe.
Wir wiederholen die „alten“ Erfahrungen und verfestigen somit die vorhandene Spur. Jedes Mal, wenn wir später gleich reagieren, verstärken wir das bereits vorhandene Muster, was es nur noch schwieriger macht, der „alten“ Spur zu entkommen.
Vor allem in unseren Beziehungen wird die Wiederholungstendenz sichtbar. Irgendwie scheint jede Beziehung der selben Dynamik zu folgen. Manche Muster wirken sich durchaus günstig auf uns aus. Wir erleben ein Miteinander in der Beziehung, dass der andere für uns da ist. Manche dieser Muster schmerzen uns allerdings. Wenn wir beispielsweise erleben, wie wir erneut verlassen, betrogen, ausgenutzt und allein gelassen werden.
Für eine Veränderung ist die Frage nach dem Warum irrelevant
Leiden wir unter unseren Mustern, suchen wir nach einer Veränderung. Meist begeben wir uns zuerst auf die Suche nach dem Warum. Wir glauben, wenn wir nur verstehen, warum wir so reagieren, lösen sich die Muster auf. Doch auch wenn wir die Ursache und einen Zusammenhang finden, ändert dies noch lange nichts an unseren Reaktionen und inneren Verknüpfungen. Wir mögen nun wissen, dass es am Verhalten unseres cholerischen Vaters, an der emotionalen Kälte der Mutter lag, aber dieses Wissen bewirkt noch keine innere Veränderung.
Finden wir eine Ursache, besteht die Gefahr, dass wir einen anderen die Verantwortung für unser Verhalten zuschreiben. Viel wichtiger als einen Schuldigen zu eruieren ist jedoch, dass wir eine Einsicht gewinnen. Denn ohne Einsicht haben wir wenig Aussicht auf Veränderung. Sind wir nach Außen fokussiert, verlangen wir vom Schuldigen eine Einsicht – vom cholerischen Vater oder der kalten Mutter. Die Einsicht des „Schuldigen“ mag dem Verursacher helfen, sich weiterzuentwickeln, doch sie hilft uns nicht. Wollen wir uns weiter entwickeln, müssen wir selber eine Einsicht gewinnen. Die Einsicht, wie sehr wir von unserer Vergangenheit beeinflusst werden und wie automatisch wir auf unsere Muster reagieren.
Eine Offenheit für neue Erfahrungen
Wollen wir eine Veränderung, müssen wir umlernen. Dafür ist es wichtig, zuerst einmal in Betracht zu ziehen, dass unsere Annahmen auch falsch sein könnten. Dass die Möglichkeit besteht, dass es auch anders sein könnte, als wir es bisher erfahren haben. Wir brauchen eine Offenheit für neue Erfahrungen.
Um „alte“ Strukturen zu lösen brauchen wir neue Erfahrungen
Ob eine Veränderung eintritt, hängt davon ab, ob es uns gelingt, die bisher aufgebauten psychischen Strukturen zu durchbrechen. Der alleinige Veränderungswille reicht nicht aus. Wir brauchen neue Erfahrungen. Erst neue Erfahrungen helfen uns, neue Verknüpfungen aufzubauen. Weichen Erfahrungen von unseren bisher bisherigen Annahmen ab, wird es möglich, die alte Verknüpfung zu relativieren und eine neue Verbindung aufzubauen.
Sich auf die Realität beziehen
Wir sind unseren frühen Erfahrungen nicht hilflos ausgeliefert. Mit jeder Erfahrung haben wir die Chance, den Wiederholungszwang zu durchbrechen.
Allerdings nur, wenn es uns dieses Mal gelingt, anders zu reagieren.
Es ist nicht einfach den Wiederholungskreislauf zu durchbrechen. Wir orientieren uns an unseren Interpretationen und achten zu wenig auf das, was wirklich ist. So erkennen wir nicht:
- ob abermals niemand für uns da ist,
- ob wir wiederum nichts fordern dürfen und eine Belastung für den anderen sind, oder
- ob die Nähe erneut bedrohlich und damit ängstigend ist.
Automatisch gehen wir davon aus, dass die Realität und unsere Erfahrungen gleich bleiben, dass es so ist, wie es immer war.
Damit orientieren wir uns aber an der Vergangenheit und nicht an der gegenwärtigen Realität. Wir bleiben an unsere Vergangenheit gebunden und erleben eine Wiederholung unserer Geschichte.
Die Lösung unserer Muster liegt in der Gegenwart. Wir können unsere Vergangenheit nicht verändern. Sie ist wie sie war. Doch verlassen wir die gewohnten Bahnen, können wir unsere Gegenwart neugestalten.
Sich wiederholende Erfahrungen schaffen einen inneren Automatismus
Wiederholen sich unsere Erfahrungen, prägen sie sich tief in unser Gehirn ein. Am Anfang gleicht unser Gehirn einer leeren Landkarte. Unsere Erfahrungen sind es, durch die auf unserer inneren Landkarte Wege und Straßen eingezeichnet und Verbindungen geschaffen werden. Eine einmalige, nicht sonderlich emotionsgeladene Erfahrung gleicht einem kleinen Trampelpfad, der rasch wieder verschwinden und zuwachsen kann. Wiederholen sich Erfahrungen, so wird die entsprechende Spur aber immer wieder benützt und aus dem Trampelpfad wird eine betonierte Autobahn. Haben wir einmal so eine innere Autobahn geschaffen, ist es schwierig, sie wieder zu verlassen oder gar zu verändern.
Sich der neuen Erfahrung bewusstwerden
Die ersten Verbindungen werden automatisch aufgebaut. Haben sich einmal Strukturen entwickelt, greifen wir ebenso automatisch auf diese Verknüpfung zurück. Die Wiederholung geschieht reflexhaft.
Noch bevor wir nachdenken, reagieren wir. Während die Wiederholung automatisch geschieht, braucht die Entwicklung Bewusstheit. Nehmen wir die veränderte Erfahrung nicht als solches wahr, hat sie keine Auswirkung auf uns. Wenn wir nicht erkennen:
- dass jetzt jemand für uns da wäre,
- dass wir keine Belastung für den anderen sind oder
- dass die Nähe gar nicht bedrohlich, sondern vielleicht sogar angenehm ist,
nützt uns eine neue Erfahrung wenig. Erfahrungen, die wir nicht bewusst mitbekommen, ziehen spurlos an uns vorüber.
Die Macht der „alten“ Erfahrung
Schaffen wir es, aus den vertrauten Muster auszusteigen, glückt eine neue Erfahrung. Doch die neue Erfahrung steht einem Berg alter Erfahrungen gegenüber, die der neuen Erfahrung oftmals widersprechen. David gegen Goliath - eine neue Erfahrung gegen viele alte Erfahrungen. Eine gelungene neue Erfahrung löst die ausgetretene alte Erfahrungsspur nicht sofort auf. Erst viele neue Erfahrungen können frühe Prägungen ausgleichen.
Die kindliche Neugier auf das Leben wiederentdecken
Wir brauchen eine kindliche Neugier auf das Leben. Wie ein kleines Kind wieder offen in die Welt blicken und beobachten was ist. Ohne zu glauben bereits vorab zu wissen was kommen wird. Sonst leben wir unser Leben aus dem Verstand heraus und binden uns damit an die vergangenen Erfahrungen.
Schlussendlich kann das Leben nicht erdacht, sondern nur erfahren werden.
Ich habe jetzt den Blog
Erkenntnisse von der Couch eröffnet. Dort finden Sie weitere interessante Beiträge, wie beispielsweise
Vorsicht: Burnoutgefahr! oder die Beitragsserie "Wenn Liebe weh tut". Hier geht es zum ersten Teil dieser Serie:
Wenn Liebe weh tut - Bedrohliche Nähe.