Persönlichkeitsstörungen
Um Persönlichkeitsstörungen zu verstehen, ist es wichtig, zuerst die “normale” Persönlichkeit, deren Entwicklung sowie Auswirkungen zu verstehen.
Näheres dazu finden Sie unter "Die Persönlichkeit"

Wie entsteht eine Persönlichkeitsstörung?

Von der “normalen” Entwicklung einer Persönlichkeit zur Entwicklung einer Persönlichkeitsstörung braucht es im Grunde lediglich einige Abweichungen im vorgefundenen Umfeld.

Finden wir ein Umfeld vor, welches in sich nicht kohärent ist, wo wir immer wieder ambivalente, verletzende, zerstörerische oder sogar traumatische Erfahrungen machen, wird dies große Auswirkungen auf den Aufbau unserer eigenen Persönlichkeit haben. In einem verzerrten Umfeld können wir innerlich nur ein ebenso verformtes Abbild von uns selbst und der Welt bilden.

Es geht nicht anders. Der Aufbau der Persönlichkeit orientiert sich an unseren gemachten Erfahrungen in der Welt. Sind diese verschoben, verzerrt, ambivalent, unklar oder destruktiv, dann entwickeln sich automatisch innerlich ebenfalls verzerrte Muster und Abbilder. Es ist so, als würden wir uns nur in einem kaputten, angeschlagenen Spiegel sehen können.

Wir würden Annahmen und Bilder über uns aufbauen, die zwar für uns real sind, jedoch nicht der tatsächlichen Wahrheit entsprechen. Wir glauben dann beispielsweise, dass wir vier Ohren oder eine schiefe Nase hätten, denn dies war das Bild, das uns der verzerrte Spiegel laufend zeigte. In dieser Form wurden wir von unserem Umfeld gespiegelt.

Dabei ist uns nicht bewusst, dass wir auf ein verzerrtes Umfeld treffen. Wir machen ja keine oder kaum andere Erfahrungen, es sind die einzig gültigen für uns. Es ist anfangs die einzige Realität die wir vorfinden, das was wir als Wahrheit erfahren.

Auf Basis dieser äußeren, verschobenen Realität wird jetzt eine innere Form der Persönlichkeit aufgebaut. Auch wenn der verzerrte Spiegel später verschwindet, sich das jeweilige Umfeld ändert, bleiben unsere Reaktionen, Antworten, Wahrnehmungen, Gefühle und unser Denken weiterhin gleich. Denn es hat sich ein innerlich verzerrtes Spiegelbild aufgebaut, welches weiterhin aufrecht bleibt.

Wurde der Aufbau der inneren Form der Persönlichkeit in der Entwicklung gestört, ist die Persönlichkeit gestört.

Hier geht es nicht um kleinere Störungen, die erfahren wir alle. Immer wieder gibt es Erfahrungen, die nicht kohärent sind, abweichen oder uns verletzen.

Bei der Bildung von Persönlichkeitsstörungen sprechen wir jedoch von traumatischen Erfahrungen oder sich stetig wiederholenden verzerrten Mustern, auf die der Mensch in seinem Umfeld trifft. Sie beeinflussen seine Erfahrungen und seine Wahrnehmungen der Welt.

Die Offenheit, Sensibilität und Zartheit des Kindes kann dem nichts entgegensetzen. Ein Kind ist solchen Erfahrungen hilflos ausgeliefert. Aufgrund der gemachten, verzerrten Erfahrungen baut der Mensch ein verzerrtes Muster von verschiedenen Persönlichkeitsanteilen auf. Diese persönlichen Anteile können extrem widersprüchlich und ambivalent sein. Sie weichen von der Norm ab, haben häufig negative, ambivalente, extrem abhängige und übersteigert idealisierende Inhalte.
 
Bei den Persönlichkeitsstörungen gleicht die aufgebaute Persönlichkeit einem Gemälde von Picasso (siehe zum Beispiel Blanquita Suarez oder Margarita Maria aus dem Bild Las Meninas). Einige Anteile mögen klar ausgeformt und richtig positioniert sein, andere wiederum sind völlig verschoben und verzerrt. Kaum mehr als das erkennbar, was sie eigentlich ursprünglich waren. Die innere persönliche Struktur, die aufgebaut wurde, ist also zumindest teilweise verzerrt und verschoben. Aufgrund ihrer Verzerrungen bewirkt sie eine eigene Dynamik. Jede Form der Persönlichkeit beeinflusst die Wahrnehmung, das Denken, Fühlen und Verhalten des Menschen. Ist die Persönlichkeit in bestimmten Bereichen gestört, so ist auch die Wahrnehmung, das Denken, Fühlen und Handeln des Menschen in diesen Bereichen gestört.

Die Persönlichkeitsstörungen wirken sich vor allem in Beziehungen, im Kontakt mit anderen Menschen, aus. Sie haben sich in der Beziehung, im Kontakt mit anderen Menschen entwickelt und in solchen Situationen werden sie wieder erneut abgerufen und aktiviert. Daher spricht man bei Persönlichkeitsstörungen immer auch von einer Beziehungsstörung. Die ersten Beziehungen waren gestört und neue Beziehungen werden weiterhin gestört.

Wäre der Mensch alleine, wen würde seine gestörte Persönlichkeit stören? Außer ihm ist keiner da, es gibt keine Reibungsfläche, welche die Verzerrung offensichtlich machen würde. Doch im Kontakt mit anderen Menschen wirkt sie sich störend aus. Nicht nur störend auf den Menschen mit der Persönlichkeitsstörung, sondern auch störend auf das Gegenüber.

Welche Auswirkungen hat eine Persönlichkeitsstörung?

Auch eine “normale” Persönlichkeit entwickelt Anteile, die wir bei Persönlichkeitsstörungen wiederfinden.

Eine “normale” Persönlichkeit hat ebenfalls Inhalte, wo der Mensch autonom sein will, sich abhängig fühlt, sich selbst abwertet oder sich bewundernswert fühlt, auf Ordnung bedacht ist, Aufmerksamkeit erreichen will, geliebt und gemocht werden will und vieles mehr. Eine “normale” Persönlichkeit ist allerdings üblicherweise in der Lage, auf die äußerlich vorgefundene Welt adäquat zu reagieren.

Im Unterschied dazu ist die gestörte Persönlichkeit nicht in der Lage adäquat auf die vorgefundene Welt zu reagieren. Hier haben sich gewisse Muster und Tendenzen verfestigt, sind völlig erstarrt und nicht mehr veränderbar. Der Mensch kann nicht mehr auf eine andere, neue Umgebung reagieren, er kann nichts Neues zulassen, nicht mehr dazulernen.

Ein Mensch mit einer Persönlichkeitsstörung hat keine innere, persönliche Flexibilität mehr. Er reagiert immer gleich oder ähnlich, in gleichen oder ähnlichen Situationen. Dabei ist es völlig egal, wer das jeweilige Gegenüber ist und wie sich der andere verhält. Jeder Mensch ruft die gleichen Mechanismen und Muster hervor. Er reagiert so,  als würde er sich immer noch in seiner früher vorgefundenen Welt der Kindheit befinden.

Der Mensch hat eine innere Form der Persönlichkeit aufgebaut, die ihn selbst gefangen hält. Sie begrenzt, beeinflusst und schadet ihm, und sie verursacht Konflikte  im sozialen Umfeld.

Nicht immer fühlt ein Mensch mit einer Persönlichkeitsstörung selbst einen Leidensdruck, sein Umfeld allerdings leidet sicher darunter. Das kommt daher, weil sich eine Persönlichkeitsstörung vermehrt im Kontakt mit anderen Menschen zeigt. Ein Mensch mit einer Persönlichkeitsstörung braucht Mitspieler für seine innere Welt. Sucht er die Bewunderung, so braucht er jemanden der ihn bewundert (narzisstisch). Sucht er die Abhängigkeit, so braucht er jemanden, von dem er abhängig sein kann (dependent). Braucht er Aufmerksamkeit, so versucht er, mit allen Mitteln, diese bei anderen Menschen zu erreichen  (histrionisch). Benötigt ein Mensch seine Ordnung, so versucht er andere zu kontrollieren und ihnen seine Ordnung aufzudrücken (zwanghaft).

Ein Mensch mit einer gestörten Persönlichkeit versucht seine eigene innere Welt auf den anderen zu übertragen. Zwischenmenschlich bestimmt er das Spiel, das gespielt wird. Ob man möchte oder nicht, ein Mensch mit einer gestörten Persönlichkeit degradiert die Mitmenschen zu Mitspielern.
 
Doch dieser Mechanismus ist ihm selbst nicht bewusst. Er ist selbst zum Mitspieler seiner eigenen verzerrten Persönlichkeit geworden. Im Grunde müsste man sagen, die verzerrten Inhalte seiner psychischen Form  bestimmen das Spiel. Die gestörte Persönlichkeit hat die Steuerung des Menschen übernommen. Der Betroffene selbst ist wie die anderen dazu verdammt, dieses Spiel von Anfang bis zum Ende mit zuspielen - ein Spiel, das bereits von Anfang an einen klar vorgegebenen Verlauf und ein vorherbestimmtes Ergebnis hat. Daher ist es für den Menschen sehr schwer aus diesen Mustern auszusteigen. Er landet immer wieder beim selben Ergebnis, in der Bestätigung seines verzerrten Selbst- und Weltbildes.

Dass der Mensch selber nur noch ein Spielball seiner eigenen Persönlichkeit geworden ist, kann man sehr leicht bei der schizoiden Persönlichkeitsstörung erkennen. Die natürlichen menschlichen Bedürfnisse, angenommen, geliebt und geschätzt zu werden, sind völlig verkümmert und wie nicht mehr existent im Leben dieses Menschen. Auch die antisoziale Persönlichkeitsstörung zeigt dies hervorragend auf. Hier sind die natürliche Impulse von Mitgefühl, einen eigenen Beitrag leisten wollen, für  andere Menschen etwas tun wollen, völlig verkümmert.

Die verformte Persönlichkeit stört nicht nur die eigene Welt, sondern beginnt die Welt des anderen ebenfalls zu stören. Der andere Mensch wird manipuliert, bewertet, eingegrenzt und in ein vorgeformtes Raster gepresst. Daher hat ein Mensch mit einer Persönlichkeitsstörung gravierende Auswirkungen auf sein Umfeld und andere Menschen.

Allen Persönlichkeitsstörungen gemeinsam ist, dass sich eine verzerrte innere Form der Persönlichkeit verfestigt hat. Sie ist nicht mehr flexibel und offen für neue Erfahrungen. Der Mensch reagiert nur noch aus seiner eigenen inneren Realität und Vergangenheit heraus und kann den anderen, dessen Absichten und Einstellungen nicht mehr wahrnehmen. Er nimmt nur mehr seine eigene Realität wahr und die ist für ihn die einzig gültige. Da diese eigene Realität jedoch meist nicht konform mit der äußeren Realität ist, ergeben sich viele und oft auch sehr schwere Konflikte mit dem Umfeld.


Die paranoide Persönlichkeitsstörung

Nehmen wir das Beispiel eines Menschen, der eine paranoiden Persönlichkeitsstörung entwickelt hat.

Bei Herrn J. stand ein diffuses Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmt, dass ihn vielleicht jemand verfolgt,  im permanenten Zentrum seiner Aufmerksamkeit. Es wurden innere verzerrte Muster aufgebaut, die immer wieder zu den gleichen Gedanken und Haltungen führen.

J. war komisch drauf. Irgendetwas schien nicht in Ordnung zu sein, als er durch die Gassen der Stadt ging. Er fühlte sich nicht wohl, ihm war mulmig zumute. Etwas passte nicht. Da tauchte der Gedanke in ihm auf, dass ihm wohl jemand folgte, der sicher nichts Gutes im Schilde führte.

Könnte sich J. von diesem Gedanken distanzieren, wäre es kein Problem. Es bliebe ein vorbei ziehender Gedanken und hätte keine Auswirkung auf ihn. Es wäre ein Gedanke von vielen, die der Mensch am Tag hat. Gedanken wie beispielsweise "dieser Mensch gefällt mir",  "meine Schuhe sind nass", "das Wetter ist heute scheußlich", "die Verkäuferin war aber unfreundlich". Tausende Gedanken ziehen tagtäglich durch unseren Kopf. Sie kommen und gehen, ohne dass wir sie gesondert zur Kenntnis nehmen oder ihnen eine besondere Bedeutung geben.

Doch bei Gedanken und Themen welche unsere Persönlichkeit, unser Ich, betreffen. ist das anders. Wir können uns nicht von ihnen distanzieren. Sie sind mehr als nur Feststellungen, aufgeworfene Fragen oder  Suche nach Lösungen. Wir nehmen sie persönlich, sie betreffen uns!

Daher war es nicht nur ein Gedanke, der J. beschäftigte, es war ein Denken, dass ihn persönlich betraf.
Die Gedanken werden persönlich genommen und bringen den Menschen in ein dazugehörendes Gefühl hinein.

 
Weil es persönlich war, war es nicht mehr nur ein vorüberziehender Eindruck oder einfach ein Gedanke, von jemandem verfolgt zu werden. Das psychische System von J. tauchte in diese subjektive Realität ein. Er dachte nicht mehr darüber nach ob er verfolgt wird oder nicht. Plötzlich wurde der Gedanke zu einem sicheren Gefühl, zu einer Gewissheit und zur persönlichen Realität.

Erst wenn ein Gedanke persönlich wird, rutscht der Inhalt auf die Ebene des Gefühls hinunter. Dann wird es ganzheitlicher. Jetzt ist nicht mehr nur das Denken davon betroffen, sondern auch das Fühlen. J. fühlte sich verfolgt. Er war sich sicher, dass er verfolgt wurde.

Hat der Inhalt des Gedankens eine zusätzliche gefühlsmäßige Qualität erhalten, verstärkt sich diese Form der Realität.

Der Verfolgungsinhalt betraf nun das Denken und das Fühlen und begann sich immer weiter auszubreiten. Mit dem Gefühl verfolgt zu werden, wurde Herr J. schlagartig misstrauisch.
Es geht nicht anders. Fühlen wir uns verfolgt, haben wir das Gefühl, es stimmt etwas nicht und dann ist es eine normale Reaktion, dass in uns Misstrauen entsteht.
Zunehmend beschlich ihn eine diffuse Angst. Er wusste nicht wer oder was ihn verfolgte, aber es trieb ihn immer tiefer in die Vorstellung des Verfolgt werdens hinein. Er begann schneller zu gehen. Mittlerweile war er in innerer Alarmbereitschaft und begann in Widerstand und Kampf zu gehen.
Die persönlichen Gedanken und Gefühle bestimmen die wahrgenommene Realität und beginnen sich immer mehr auf das Verhalten auszuwirken.
Das Gefühl des verfolgt werden, war zur persönlichen Realität von Herrn J. geworden. Es war mittlerweile übermächtig, hatte ihn vollends erfasst. Nur noch dieses verfolgt sein, war für ihn wahrnehmbar.  Dass es ein schöner sonniger Tag war, war nicht mehr relevant für ihn. Dass er gut geschlafen und fröhlich in den Tag gestartet war, war vorbei.
“Ich werde verfolgt” hämmerte es immer weiter in seinem Kopf. Also drehte er sich um und begann er mit kalten Augen und stechendem Blick die Umgebung abzusuchen, wer den wohl der Übeltäter war.
J. hatte jegliche Distanz zu seinen Gedanken, Gefühlen und Verhalten verloren. Dieses Muster war ihm bereits so vertraut, dass er sich weder dessen bewusst wurde, noch es steuern konnte. Das Muster des Verfolgt werden steuerte ihn. Wie ein sich ständig wiederholender Film wurde es immer wieder aktiv und verlief dann nach dem gleichen Schema. 

Weitere Gedanken, die seine "Vorstellungswelt" verstärkten, tauchten auf. Was sie wohl wollten? Sie wollten sicher sein Geld, dass er sich so hart verdient hatte. Alle wollten nur sein Geld, aber dieses Mal nicht. So leicht würde er es ihnen nicht machen. Die sollten nur kommen, er war vorbereitet. J. stand unter enormen Stress. Er war unter Hochspannung, jederzeit bereit zuzuschlagen, sich sofort zu schützen und zu verteidigen.
Nachdem etwas Unkonkretes und Unbestimmtes nur schwer auszuhalten ist, sucht der Mensch förmlich nach einer Bestätigung seiner subjektiven Wahrnehmung.
Die gefühlte Realität war klar, doch der mögliche Täter war auf den ersten Blick, nicht auffindbar. J. konnte sein Gefühl nicht konkret an jemanden festmachen. Das erhöhte die diffuse Angst nur noch weiter und er wurde noch unruhiger. Einem Mensch fällt es schwer, ein diffuses Gefühl zu ertragen, wenn es keine konkreten Anzeichen und Anhaltspunkte für seine Vermutungen gibt. Es macht ihn extrem nervös und unsicher und er beginnt nach einer Bestätigung zu suchen.
Das ist eines der wichtigsten Kennzeichen von Persönlichkeitsstörungen. Die Wahrnehmungen und Eindrücke sind nicht konkret, sie sind nicht real. Wäre real jemand da, der ihn verfolgen würde, so wären diese Gefühle völlig adäquat und keine Persönlichkeitsstörung. Doch seine Empfindungen basierten auf etwas, das nicht real war. Sie suggerierten eine komplett andere Situation, als die, die tatsächlich vorhanden war.
 
Also begann sich J. von allen Menschen in seiner Umgebung verfolgt zu fühlen. Er baute die anderen Menschen in seine Welt in sein Spiel ein.

Fühlt man sich von allen Menschen in der Umgebung verfolgt ist es vollkommen normal, in eine Abwehrhaltung zu gehen. Er rüstete innerlich auf, war auf Kampf und Widerstand aus. “Wenn die anderen alle böse waren, ihm nur schaden wollten, warum sollte er dann nett mit ihnen sein?” 

Also ging J.  auf  die Menschen los und pöbelte sie an. Er  konnte nicht anders. In seiner "persönlichen Realität" waren sie mittlerweile alle hinterhältig, böse und gemein geworden. Sie versuchten ihm etwas Schlechtes anzutun. Dagegen versuchte er sich mit allen Mitteln zu wehren.  

In seinem psychischen System kam es zu einer erste Entlastung. Denn jetzt hatte der nicht konkrete Eindruck ein konkretes Ziel bekommen. Er konnte seine Geschichte an den anderen Menschen ausagieren. Dass er dabei vollkommen den Kontakt zur äußeren Realität verloren hatte, war ihm weder zugänglich noch bewusst. Er versuchte sich in seiner aufgebauten, als real empfundenen Welt zu wehren.

Der Mensch reagiert aus seiner eigenen Vorstellungswelt heraus und beeinflusst mit seinen Aktionen wiederum die äußere Realität der anderer Menschen.
Aufgrund seiner wahrgenommenen Realität begegnete  J. den anderen Menschen in einer aggressiven und abwertenden Art. Diese waren überrumpelt. Sie  fühlten sich von ihm angegriffen, kannten sich nicht aus, wussten nicht wie ihnen geschah und begannen ihrerseits sich zu wehren.  J bekam sehr negative und abweisende Sanktionen von den anderen Menschen.

Damit läuft das Spiel nach dem vorgegebenen Muster ab. Der Erfahrungskreislauf schließt sich endgültig.

Jetzt fühlte sich J. erst recht bestätigt. Er hatte es ja bereits gewusst. “Die Menschen waren böse und gemein!”

Seine inneren Muster, Einstellungen, Gedanken und Gefühle, sein gestörtes Feld der Persönlichkeit wurde weiter unterstützt und genährt. Nachdem die anderen Menschen negativ auf ihn reagierten, fühlte er sich in seinen Annahmen vollkommen bestätigt. Sie hatten wirklich böse Absichten, waren ihm nicht wohlgesonnen. Er fühlte sich zu Recht von ihnen verfolgt.

Ist die äußere Realität anders als erwartet, so wird sie von der Persönlichkeit uminterpretiert und der eigenen Realität angepasst.

Bei J. war dieser Persönlichkeitszug bereits ausgeprägt und fixiert. Auch bei Menschen, die freundlich oder wohlwollend auf ihn reagierten, kam er zu den gleichen Schlussfolgerungen. Seine Persönlichkeit interpretierte die vorgefundene äußere Welt einfach um und passte sie den eigenen Ein- und Vorstellungen an. Reagierte ein Mensch freundlich, dann war J. sicher, dass dieser Mensch wahrscheinlich extrem gefährlich und hinterhältig war. Er spielte lediglich ein mieses Spiel mit ihm. Der freundliche Mensch wollte ihn nur für dumm verkaufen, ihm etwas vormachen und ihn täuschen.
Ein freundlicher Mensch verringerte nicht sein Misstrauen, sondern erhöhte es sogar. Bei den anderen war es ja offensichtlich, doch bei diesen Menschen wurde es viel bedrohlicher. Dieser Mensch versteckte seine bösen Absichten!

Die gestörten Persönlichkeitsanteile übernehmen immer mehr die Steuerung des Menschen.

Mit der Zeit verflachten die normalen Kontakte von Herrn J. Er fühlte sich immer öfter von immer mehr Menschen verfolgt, bedroht oder abgewertet. Auch den Menschen, die ihm näher kamen, konnte er nicht wirklich vertrauen. Vielleicht hatten sie sich nur eingeschleust, um ihm näher zu kommen und seine Schwächen zu erkunden und ihn dann erst recht fertig zu machen. Kam es in näheren Kontakten versehentlich und unabsichtlich zu Kränkungen, so unterstellte er diesen Menschen die vollste Absicht und konnte die Kränkung nicht mehr vergessen.
Er begann immer argwöhnischer die Menschen zu beobachten, deren Aussagen, Verhalten und Schauen zu interpretieren. Sah ihn jemand an, so fragte er sich sofort, was der wohl wollte, was der wohl im Schilde führte. Überall begann er eine Negativität der anderen zu erkennen. Sein Leben verschob sich zusehends. Er wurde immer noch misstrauischer und fühlte sich immer öfter verfolgt. J. hatte nur noch in seltenen Momenten Zugang zur wirklichen äußeren Realität. Seine eigene innere Vorstellung wurde zum Entscheidungskriterium.
 
Er  hielt immer mehr an seiner paranoiden Persönlichkeitsform fest. Mit der Zeit wurde sie zum einzigen, dass konstant blieb, das Sicherheit bot und Bestand hatte. Die paranoide Störung war immer da, sie wurde zu seinem engsten Begleiter und besten Freund. Kein Mensch war ihm je so nahe, wie seine Störung.

Die paranoide Persönlichkeitsstörung - Kriterien nach DSM-IV-TR


Ein tiefgreifendes Misstrauen und Argwohn gegenüber anderen, so dass deren Motive als böswillig ausgelegt werden.

Mindestens vier der folgenden Kriterien müssen dabei erfüllt sein:

  • verdächtigt andere ohne hinreichenden Grund ihn auszunutzen, zu schädigen oder zu täuschen
  • ist stark eingenommen von ungerechtfertigten Zweifeln an der Loyalität und Vertrauenswürdigkeit von Freunden oder Partnern
  • vertraut sich nur zögernd anderen Menschen an, aus ungerechtfertigter Angst, die Informationen könnten in böswilliger Weise gegen ihn verwendet werden
  • liest in harmlosen Bemerkungen oder Vorkommnissen eine versteckte, abwertende oder bedrohliche Bedeutung hinein
  • ist lange nachtragend, d. h. verzeiht Kränkungen, Verletzungen oder Herabsetzungen nicht
  • nimmt Angriffe auf die eigene Person oder das Ansehen wahr, die anderen nicht so vorkommen, und reagiert schnell zornig oder startet rasch einen Gegenangriff
  • verdächtigt wiederholt ohne jede Berechtigung den Ehe- oder Sexualpartner der Untreue.

Ein möglicher Erfahrungraum, der zu einer paranoiden Persönlichkeitsstörung führen könnte

Versuchen wir uns vorzustellen, wie die Welt sein könnte, die einen Menschen in eine paranoide Persönlichkeitsstörung führt. 

Dieser Mensch muss ein Umfeld vorgefunden haben, wo er kein Vertrauen entwickeln konnte. Menschen, die ihn immer wieder körperlich, emotional oder intellektuell zutiefst verletzt, beleidigt, gekränkt und  gedemütigt haben. Eine Welt, in der es viele Abwertungen, Zurückweisungen, Verletzungen, vielleicht auch körperliche Misshandlungen gab. Eine Welt, wo man ständig aufpassen und achtsam sein musste, um sich zumindest ansatzweise vor den nächsten Übergriffen zu schützen. Dieses Umfeld mag sehr wohl zwischendurch auch liebevolle Tendenzen gezeigt haben. Die Mutter, die bspw. auch umarmte und erzählte, wie lieb sie einem doch hat. Aber der nächste Übergriff, die nächste Abwertung, die nächste Misshandlung kam bestimmt. Es gab wenig im Verhalten der Bezugspersonen, woran man sich wirklich orientieren konnte. Sie mochten lieb und zuvorkommend sein und dann kippten sie und waren plötzlich bösartig und verletzend. Machte man in schönen Momenten den Fehler sich zu öffnen und war man ehrlich und verletzlich, dann wurde das bestimmt wieder gegen einem verwendet. Man lernte, dass sich zu öffnen, verletzlich, ehrlich und emotional zu sein, eine große Dummheit war. Ein Kardinalsfehler, der sicher wieder bestraft wird.

Was fehlte in dieser vorgefundenen Welt völlig? Es fehlte zumindest ein Mensch, der einem als Kind vor dem Unberechenbaren und Verletzenden schützte. Ein Mensch, dem man bedingungslos vertrauen konnte, der einem verstand und Dinge erklärte. Der für einen eingetreten wäre und Sicherheit und Vertrauen vermitteln hätte können.

Wenn wir die Welt verstehen, die ein Menschen mit einer Persönlichkeitsstörung vorgefundenen hat, wirkt sein Verhalten nicht mehr gestört. Dann wird begreifbar, dass sich Menschen in so einer Umgebung nicht anders entwickeln konnten. Wird die Welt oder werden die Menschen als ungerecht, böse, übergriffig und abwertend erfahren, werden wir automatisch misstrauisch und wir beginnen uns zu schützen. Wir versuchen schneller zu sein als die anderen. Wir werden angreifen, noch bevor wir angegriffen werden. Wir werden lernen, uns so rasch als möglich zu verteidigen, ehe noch schlimmeres geschieht. Wem hätte man vertrauen sollen, wenn nie jemand da war, auf den man sich verlassen konnte, dem man vertrauen konnte?
 
So ein Mensch mag in der “normalen” Welt eine gestörte Persönlichkeit haben, in seiner damalig vorgefundenen “gestörten” Welt war dies eine “normale” Persönlichkeitsentwicklung.

Weil die frühkindlichen Erlebnisse die ersten Erfahrungen sind, brennen sich diese zutiefst ein. Daher sind sie nicht so einfach zu lockern oder zu lösen. Es dauerte lange, bis solche Muster entstanden sind und es braucht daher auch Zeit, bis so ein Mensch wieder zaghaft lernen kann, sich auf andere näher einzulassen, ihnen vielleicht wieder irgendwann zu vertrauen. Diese frühkindlichen Erfahrungsmuster stellen persönliche Basismuster dar, die in vielen Situationen automatisch aktiviert werden. In annähernd ähnlichen Situationen ist der Betroffene daher jederzeit bereit, sich sofort wieder zu verteidigen und sich persönlich zu schützen.

Alle Persönlichkeitsstörungen haben sich aufgrund einer vorgefundenen, teilweise verzerrten Welt gebildet und funktionieren in ihren Mechanismen ähnlich. 

 
©  Mag. Brigitte Fuchs