Abschied, Verlust und Trauer
Verlust und Trauer als menschliche Entwicklungsaufgabe
Wir alle sind gefordert zu lernen, mit Verlust und Trauer umzugehen.
Abschiede gehören zum Leben dazu. Sei es, weil:
- eine Lebensphase – wie die Kindheit - endet,
- wir altern und wir uns mit den damit einhergehenden Verlusten auseinander setzen müssen,
- Veränderungen eintreten, womit wir uns von vertrauten Dingen, Situationen – der Wohnung, dem Job – verabschieden,
- Freundschaften und Beziehungen enden,
- wir uns endgültig verabschieden müssen, weil jemand stirbt oder wir selbst sterben.
Jeder Verlust löst Trauer aus. Trauer ist Ausdruck eines Trennungsschmerzes. Den schlimmsten Trennungsschmerz erleben wir, wenn ein geliebter Mensch stirbt. Dann ist es wichtig zu trauern, weil
uns die Trauer bei der Verabschiedung hilft und uns wieder zurück ins Leben führt.
Der Trauerprozess wird nicht nur aktiviert, wenn jemand stirbt, sondern auch wenn wir uns mit unserem eigenen Sterben auseinander setzen. Dann müssen wir uns nicht nur vom eigenen Leben sondern auch von den unverwirklichten Zielen und von geliebten Menschen verabschieden.
Trauer ist prozesshaft. Je nachdem wo wir im Trauer- oder im persönlichen Entwicklungsprozess stehen, zeigt die Trauer unterschiedliche Auswirkungen.
1. Das Nicht-Wahrhaben-Wollen des Verlusts
Das Nicht-Wahrhaben-Wollen des Verlustes ist eine Erstreaktion, der wir häufig begegnen. Wir können den Verlust noch gar nicht fassen, stehen unter Schock. Es erscheint unreal, dass dieser Mensch gestorben ist.
Je weniger wir auf den Tod eines geliebten Menschen vorbereitet sind, umso größer ist der Schock. Vor allem, wenn:
- der Verlust plötzlich und unerwartet eintritt,
- wir uns weder vorbereiten noch verabschieden konnten oder
- wir die Tatsache, dass ein Mensch im Sterben liegt, ausblenden.
Ist ein Abschied möglich, wird der Tod begreifbarer. Wir haben erlebt, wie dieser Mensch im Sterben lag und gestorben ist. Damit ist dessen Sterben und Tod nicht nur ein Fakt, sondern ein Teil unserer Erfahrung geworden.
In der Phase des nicht wahrhaben Wollens erscheint der Tod unwirklich. Wir können nicht glauben, dass der Verstorbene nicht mehr unter uns weilt. Im Grunde warten wir darauf, dass alles wie gehabt weitergeht, dass der Verstorbene wieder anfängt zu atmen, nach Hause kommt, dass wir endlich aus diesem Alptraum aufwachen und alles so ist, wie vorher.
In der Phase des Schocks sind wir innerlich wie erstarrt, weshalb wir noch keine Emotionen verspüren. Da ist noch kein Schmerz, keine Trauer. In diesem Zustand funktionieren wir ohne uns sonderlich zu spüren. Es kann dauern, bis sich die innere Erstarrung löst, und die Trauergefühle aufbrechen.
In der eigenen Betroffenheit wird der anstehende Tod anfangs oft ignoriert. Es erscheint nicht real, es muss falsch sein.
Selbst zu sterben ist nicht vorstellbar. Häufig folgt dem Wissen um das eigene Sterben ein Verhandeln. Wir verhandeln mit dem Schicksal, beten, versprechen Dinge zu tun, zu ändern, damit dieser Kelch an uns vorüberzieht. Oftmals dauert es, bis wir das eigene Sterben akzeptieren.
Die Phase des Nicht-Wahrhaben-Wollens kann meist nicht lange aufrecht erhalten werden. Denn irgendwann holt uns die Realität ein und wir sind gezwungen, uns mit dem Verlust oder dem Sterben auseinander zusetzen.
2. Der körperliche Ausdruck der Trauer
Der körperliche Verlust ist der erste, den wir erfassen. Die Realität zeigt klar auf, dass der Verstorbene nicht mehr ist. Bei der Beerdigung wird der Körper des Verstorbenen zu Grabe getragen, wir verabschieden uns. Der körperliche Abschied wird ganz konkret erlebt und schmerzt unsagbar. Häufig spüren Menschen anfangs noch die Anwesenheit des anderen, so als wäre der Verstorbene noch hier. Doch die körperliche Realität zeigt, dass der andere nicht mehr da ist. Auch wenn wir uns noch mit dem Verstorbenen verbunden fühlen, noch mit ihm sprechen, kann der körperliche Verlust nicht ignoriert werden. Wir können den Verstorbenen nicht mehr berühren und nie mehr von ihm berührt werden.
Verstirbt der Partner, tasten wir oft im Bett nach ihm/ihr, oder blicken auf seinen/ihren Lieblingsplatz. Diese Auseinandersetzung hilft uns, uns des körperlichen Verlustes bewusst zu werden. Auch wenn andere Personen für uns da sind, uns tröstend umarmen - es ist nicht dasselbe. Die verstorbene Person fehlt ganz konkret und dieser Verlust ruft körperliche Beschwerden hervor.
Die körperlichen Auswirkungen der Trauer spüren wir üblicherweise am schnellsten, häufig von Anfang an. Wir können nicht schlafen, haben keinen Appetit, können nicht essen, uns ist schlecht, wir fühlen uns kraft- und energielos, haben Schmerzen oder verfallen körperlich. Je näher und enger die Beziehung war, umso größer ist der körperliche Schmerz. Stirbt der Partner/die Partnerin oder das Kind, so wird dieser Verlust manchmal körperlich so intensiv erlebt,
als wäre ein Teil von uns selbst gestorben.
In der anfänglichen sehr körperorientierten Trauer ist es günstig, wenn das Umfeld körperlich auf den Trauernden reagiert. Mit körperlicher Zuwendung, einer Umarmung, mit einer warmen Suppe, mit Unterstützung bei alltäglichen Verrichtungen, für die der Trauernde gerade wenig Kraft hat.
3. Die emotionale Trauer
Die Trauer erfasst nicht nur den Körper. Wir sind auch emotional gefordert uns vom geliebten Menschen zu verabschieden. Schmerz und Trauer tauchen meist sehr rasch im Trauerprozess auf. Doch im Trauerprozess können verschiedene Gefühle auftauchen:
- Schmerz,
- Trauer und Traurigkeit
- Wut, Aggression
- Angst vor dem Allein-Sein, davor, alleine nicht zurecht zu kommen, oder auch Angst, dass noch andere wichtige Menschen sterben könnten sowie die Angst vor dem eigenen Sterben
- einem Gefühl von Ungerechtigkeit, ein Hadern mit dem Schicksal
- negative Gefühle dem Verstorbenen gegenüber, wie ein Vorwurf, dass dieser uns einfach verlassen und alleine gelassen hat, oder auch Vorwürfe, dass dieser nicht gut auf sich geachtet hat, oder auch Ekel oder Scham bezüglich seines Sterbens
- die Sehnsucht nach dem Verstorbenen, so wie die Hoffnung, wir könnten aus diesem bösen Alptraum erwachen,
- Schuld und Schuldgefühle
- Depression, alles erscheint uns unwichtig und sinnlos.
Trauer und Schmerz sind die vorrangigen Gefühle. Manchmal ist es anfangs aber einfacher, wütend zu sein, als den Schmerz und die Trauer zu spüren.
Trauer tut körperlich und emotional weh. Verspannen wir uns dabei, verstärkt dies den Schmerz. Die Gefühle des Schmerzes und der Trauer durchfluten uns in Wellen. Sie kommen und gehen. Einmal ist der Schmerz der Trauer kaum aushaltbar, dann wiederum wird es ruhiger. Es ist ok, wenn es ruhiger wird. Wir brauchen die ruhigeren Phasen, um Kraft für die nächste starke Trauerwelle zu sammeln.
Für die emotionale Trauerbewältigung ist es günstig, wenn wir gelernt haben, Gefühle zuzulassen und über Gefühle reden zu können. Gerade wenn negative Gefühle ausgelöst werden, wie Wut, Scham, Schuldgefühle oder Ekel, ist es oft schwer sich diese Gefühle zu erlauben und sie als Teil des Trauerprozesses anzunehmen und zu akzeptieren. Gespräche mit nahen Menschen, innere Zwiegespräche mit dem Verstobenen, einen Brief an den Verstorbenen zu schreiben, kann hilfreich sein um diesen Gefühlen Ausdruck zu verleihen.
In der emotionalen Trauerbewältigung ist es extrem hilfreich, wenn andere die intensiven Emotionen, die in uns ausgelöst werden, aushalten. Oftmals ist das emotionale Zumuten schwierig, wenn jemand im Sterben liegt und man die Familie nicht noch zusätzlich mit seinen Gefühlen der Angst, Depression oder Wut belasten will oder die Familie den Sterbenden nicht mit ihren Gefühlen belasten will.
War die Beziehung zum Verstorbenen gut und ist ein gemeinsamer Abschied gelungen, erleichtert dies die emotionale Trauer. Je verstrickter und ungeklärter die Beziehung zum Verstorbenen war, umso schwieriger wird es, einen emotionalen Abschluss zu finden.
4. Der mentale Abschied
Nicht nur Körper und Gefühl trauern, wir setzen uns auch mental mit dem Verlust auseinander. Die Gedanken drehen sich um den Verstorbenen, Erinnerungen an die gemeinsame Zeit tauchen auf. Erinnerungen können schmerzhaft seins, weil sie den Verlust aufzeigen, es können aber auch schöne Erinnerungen sein, die ein Lächeln in uns auslösen. Auch in der Trauer ist es in Ordnung, zu lächeln oder gute Gefühle zu spüren.
Erinnerungen werden oft zigmal wachgerufen, erneut erlebt und analysiert. Wir stellen Fragen an uns, wie: „Hätten wir anderes reagieren können?“ oder „Hätten wir vorab erkennen können, dass dieser Mensch stirbt?“. Es kommt zu einer aktiven mentalen Auseinandersetzung mit dem Verlust. Wir denken über unsere Beziehungen über das Sterben und den Tod nach.
Der mentale Abschied wird blockiert, wenn wir uns nicht erlauben an den Verstorbenen zu denken, wenn es ein „familiäres Verbot“ gibt über den Verlust zu sprechen, wenn wir alles vom Verstorbenen sofort wegräumen, damit uns nur ja nichts an den Verstorbenen erinnert oder wenn der Tod ignoriert wird.
Es ist auch eine Chance, in einer Familie über den anstehenden Tod eines Menschen zu reden und gemeinsam einen Abschied zu gestalten, solange dieser Mensch noch da ist.
5. Der Abschied von den Gemeinsamkeiten
Der Abschied verläuft in Stufen und wird zunehmend verinnerlicht. Am schwierigsten ist der Abschied von der gemeinsamen Zukunft. Stirbt die Partnerin oder der Partner haben wir meist ein gemeinsames Leben und Altern geplant. Dieses gemeinsame Zukunftsbild existiert jetzt nicht mehr und wir sind gefordert, neue Perspektiven zu entwickeln.
So wie wir am Anfang einer Beziehung eine Zeit erleben, in der wir alles das erste Mal mit dieser Person erleben – wie das erste Mal gemeinsam frühstücken, Urlaub fahren oder Geburtstag feiern – so erleben wir nun eine Situation, in der wir alles das erste Mal ohne sie erleben. Je mehr und je länger wir den Alltag miteinander teilten, umso schlimmer ist der Abschied von den vertrauten Gemeinsamkeiten. Wir machen dieselben Erfahrungen – aber dieses Mal schmerzhaft alleine. Hier wird uns bewusst, wie viel Raum der Verstorbene in unserem Leben eingenommen hat und wo er überall fehlt.
Markante Tage, wie Weihnachten, Silvester, der Geburtstag, Hochzeitstag oder der Todestag sind und bleiben auch über einen längeren Zeitraum schwierig. An diesen Tagen ist der Verlust am intensivsten spürbar.
Während wir anfangs Plätze mit gemeinsamen Erinnerungen eher schlecht aushalten, werden später diese Plätze zeitweise ganz bewusst aufgesucht. Die gemeinsamen Plätze vermitteln ein warmes Gefühl von Verbundenheit und halten die Erinnerung an den Verstorbenen wach. Wir suchen das Gemeinsame, wo doch die andere Person nicht mehr zu finden ist.
Wenn es um das eigene Sterben geht, ist es günstig, die Möglichkeit zu nutzen, sich ganz bewusst von den Gemeinsamkeiten zu verabschieden und diese noch einmal zu zelebrieren.
6. Ein zögerlicher Neuanfang
Anfangs sind wir in einer absoluten Ausnahmesituation. Wir leben in einer Welt des Schmerzes und der Trauer. Doch irgendwann sind die schlimmsten Gefühle durchlaufen, die Dinge geregelt, es gibt neue Rituale, wir sind gefordert, unser eigenes Leben wieder in den Mittelpunkt zu stellen.
Alltägliche Verrichtungen helfen bei der Trauerbewältigung. Der Verlust ist allgegenwärtig. Doch so unvorstellbar es auch erscheint – das eigene Leben bleibt nicht stehen, es geht weiter, irgendwie. Nun gilt es langsam dieses „Irgendwie“ wieder zu gestalten, sich neue Ziele zu setzen: „Was möchte ich noch leben und erleben?“ Der Verlust eines wichtigen Menschen kann uns auch aufrütteln und unterstützten, Dinge umzusetzen, die wir schon lange tun wollten. „Jetzt ist noch Zeit zum Leben, worauf warte ich?“
Schwierig wird es, wenn wir uns weigern einen Neuanfang zu wagen. Wenn wir so sehr am Verstorbenen festhalten, dass wir keine Nähe mehr zu anderen Personen zulassen oder das Zimmer des Verstorbenen konservieren. Dann kommt es zu keiner Weiterentwicklung und wir bleiben in einer ungesunden Trauer hängen.
7. Die Integration des Verlustes
Durchlaufen wir den Trauerprozess, bleibt der Verstorbene als wichtiger Teil der eigenen Geschichte erhalten. Es gibt viele Erinnerungen und gemeinsame Erfahrungen, die in uns weiterleben. Dinge, die uns der Verstorbene gelehrt und mitgegeben hat. Auch wenn eine gewisse Wehmut bleibt, ist der Verlust Teil unseres Lebens geworden.